Vorwort
Nenne einem italienischen Kinde Pinocchio, Name des Helden der italienischen Originalausgabe dieses Buches. (C. Collodi, Le Avventure di Pinocchio, Firenze, R. Bemporad & Figlio.) und seine dunklen Augen schauen zu dir empor im leuchtenden Glanz der Freude; hast du ihm doch den Namen eines Freundes ausgesprochen. Alle kennen ihn, den allzeit lustigen hölzernen Kleinen. Sie freuen sich immer wieder an seinen lustigen Streichen, trauern mit ihm, wenn es ihm schlecht ergeht, und lernen aus seinen Strafen das Böse meiden im eigenen Leben. «Denke an Pinocchio und seine lange Nase!» mahnst du einen kleinen Lügner; er greift rasch an seine eigene Nase und wird nachdenklich. «Erinnerst du dich des Eselsfiebers, das Pinocchio so große Sorgen machte?» fragst du ein Faulenzerchen, und du hast ihm die beste Strafpredigt gehalten. — Herzensfreude und erzieherischen Nutzen hat das Büchlein allüberall verbreitet, wo es Eingang gefunden. In mehr denn einer halben Million Exemplaren hat es seinen Siegeszug gehalten unter der italienischen Jugend. In Deutschland ist das Schriftchen kaum bekannt geworden. Zwei Bearbeitungen sind vorhanden, haben aber keine nennenswerte Verbreitung gefunden. Der Grund mag darin liegen, daß sie, den tiefen sittlichen Inhalt des Büchleins verkennend, eine leichte Kasperlesgeschichte daraus gemacht oder daß sie in der Übertragung zu eng an das Original sich angeschlossen und dem deutschen Kinde unverständliche Situationen geschaffen haben.
Seit Jahren im engsten Verkehr mit der italienischen und deutschen Jugend, glaubte ich den Versuch wagen zu dürfen, eine neue Bearbeitung herauszugeben, die ohne wesentliche Abweichungen vom italienischen Original deutsch zur deutschen Jugend spricht.
Beim Erscheinen des Büchleins denke ich dankbar zurück an einen großen Freund der Jugend, Herrn Dr. Ernst Geradaus, der einst an linden Frühlingstagen, da uns milde Zephirwinde von den Blütenhügeln der Arnostadt flutende Wellen von Düften entgegentrugen, zuerst den deutschen Bengele gehört und sich der Ausgabe mit großer Liebe angenommen hat.
Florenz, Juli 1913. Anton Grumann, Rektor.
Erstes Stück
Ein Holzscheit, das sprechen, lachen und weinen kann
Es war einmal…
«Ein König!» — meinen gleich die klugen kleinen Leser.
Aber diesmal, Kinder, habt ihr weit daneben geraten. — Es war einmal: ein Stück Holz, ja, ein ganz gewöhnliches Holzscheit! Draußen lag es im Wald mit vielen andern Stücken auf der Beige. Ein Fuhrmann kam, lud sie alle auf den Wagen und fuhr damit zur Stadt dem Schreiner-Toni vor das Haus. Das Holz ward gesägt und gespaltet; denn im kalten Winter sollte es im knisternden Ofen die Stube wärmen. — Ein Glück, daß Toni das eine Scheit bemerkte. Es war so hübsch gerade und hatte keinen Ast; drum stellte es der Schreiner in eine Ecke seiner Werkstatt und dachte: «Ein gutes, glattes Stück, ’s wär schade, es zu verbrennen.»
Toni verstand sein Handwerk und war überall bekannt. — Man nannte ihn freilich nur den Meister Pflaum; doch das kam davon, daß seine zierlich runde Nasenspitze so duftig blau erglänzte wie eine reife Pflaume, die unberührt am Baume hängt.
Eines Tages war Meister Pflaum daran, einen Tisch zu verfertigen. Eben sah er sich in der Werkstatt nach dem passenden Holze um, erblickte das Scheit in der Ecke, rieb sich freudig die Hände und murmelte zufrieden vor sich hin: «Das Stück da kommt mir wie gerufen, es gibt einen Tischfuß.» Gleich nahm er das scharfe Beil, um die Rinde abzuschlagen. Der erste Hieb fiel auf das Holz, da — «Oje, oje», wimmerte erbärmlich ein zartes Stimmchen, «nicht so arg schlagen, nicht so arg!» —
Potz Blitz! was war das? — Kalte Angst kam über den guten Schreiner, die Haare standen ihm zu Berge, er hatte nicht mehr Zeit, die ausgestreckte Hand mit dem Beile sinken zu lassen, und so stand er unbeweglich da wie das Einfahrtszeichen an der Eisenbahn, wenn es dem daherbrausenden Zuge «Halt!» gebietet.
Nach einiger Zeit erholte sich Meister Pflaum von seinem Schrecken, und nun durchsuchte er ängstlich die ganze Werkstatt. — Es war niemand zu sehen. Er guckte unter die Hobelbank, — niemand! in den stets verschlossenen Schrank, — niemand! in den Korb mit den Hobelspänen und dem Sägmehl, — niemand! er machte die Türe auf und sah auf die Straße, — auch niemand! Nanu?…
Mit erzwungenem Lachen kratzte sich der Schreiner hinter den Ohren und sprach:
«Ganz klar! Ich hab’s. — Das Stimmchen war eine närrische Einbildung. Nur wieder mutig an die Arbeit!»
Fest nahm er das Beil in die Hand, kräftiger noch wie das erste Mal führte er den Hieb auf das Holz, tief drang die scharfe Schneide ein: «Au! Wie hat das wehgetan!» klagte laut das gleiche Stimmchen.
Jetzt ward Meister Pflaum wie versteinert: seine Augen traten weit hervor aus den Höhlen, sein Mund stand sperroffen, die Zunge hing ihm über die Unterlippe herab so tief wie den Wasserspeiern am Springbrunnen.
Nach einiger Zeit fand er die Sprache wieder; aber er zitterte immer noch entsetzlich und fragte stotternd:
«Wo mag denn nur dies Jammerstimmchen hergekommen sein? Das Holz da wird doch nicht weinen und klagen können wie ein kleines Kind! — Unmöglich! — Schau mir’s nur einer an: ist es nicht ein Scheit wie jedes andere? Hätte man es gesägt und gespaltet, so wäre es vielleicht längst zu Asche verbrannt. — Nanu!? — Oder… wirklich! es könnte sein? — Einer versteckt in dem Holze? — Na! Der hätte sich einen ungeschickten Platz gesucht! Wart, dir will ich’s bequemer machen; gleich helf’ ich dir heraus.»
Sprach’s, packte das unschuldige Scheit mit beiden Händen und warf es erbarmungslos an die Wand der Werkstatt.
Nun stand er da ganz still; er horchte, er neigte seinen Kopf gegen das Holz hin und lauschte. Zwei — drei — fünf Minuten waren schon vergangen — alles blieb ruhig, nichts regte sich — gar nichts.
«’s ist doch zum Lachen… haha!» sprach jetzt der mutige Schreiner und fuhr sich durch die struppigen Haare. «Wie man dumm sein kann! — Versteht sich! Das Stimmchen hab’ ich mir eingebildet. — Nein! Schon so viel Zeit verloren! Jetzt geht es in allem Ernst an die Arbeit!»
Und doch hatte er immer noch Angst. Zwar fing er an, ein lustig Liedlein vor sich hin zu singen; aber er tat es nur, um sich Mut zu machen.
Mit dem Beile getraute er sich nicht mehr an das verhexte Holz; ein bißchen besser wollte er es doch behandeln. So spannte er das Scheit auf die Hobelbank, holte von der Wand einen langen Hobel und ließ ihn über das rauhe Holz hin und her gleiten.
Auf einmal kichert’s und lacht’s in der Werkstatt:
«Hör auf! — Ich bin so kitzelig!» Da war’s mit Meister Pflaums Mute vorbei. Wie vom Blitz getroffen sank er nieder und war wie tot. — Als er wieder zu sich kam und die Augen aufmachte, merkte er, daß er auf dem Boden saß.
Wenn ihr ihn hättet sehen können! Starr glotzten die Augen aus dem verstörten Gesichte, und die runde Nasenspitze saß mitten darin wie eine schwarzglänzende Tollkirsche.
Zweites Stück
Meister Seppel erhält das Stück Holz
Es klopfte an.
«Nur zu!» rief der Schreiner; er saß noch immer auf dem Boden.
Ein lustiger Alter kam zur Türe herein; es war der Seppel. Von seinem Handwerk hatte er den Namen «Schnefler», denn er war ein geschickter Holzschnitzer. Die bösen Buben in der Nachbarschaft hießen ihn freilich nur den «Gälfinken». Seine gelbe Perücke hatte diesen Übernamen verschuldet.
Der «Schnefler-Seppel» war sehr jähzornig. Gnad’ Gott dem, der ihn «Gälfink» nannte. Das machte ihn teufelswild, und im Zorne kannte er sich selbst nicht mehr.
«Guten Tag, Meister Toni!» grüßte Seppel artig, «was schaffst du denn auf dem Boden?»
«Ich will den Ameisen das ABC beibringen.»
«Ein neuer Beruf! — Guten Erfolg!»
«Was bringt dich heute zu mir, Seppel?»
«Eine kleine Sorge, Toni; ich möchte dich um einen Gefallen bitten. — Heute früh ist mir ein neuer Gedanke in den Kopf gekommen.»
«Laß hören!» sagte der Schreiner und stand vom Boden auf.
«Ich möchte mir einen hölzernen Hampelmann schnitzen; denn ich habe eine neue Art erfunden, den Zauberhampel. Fechten und seiltanzen muß er mir lernen. Dann reise ich mit ihm durch die Welt und verdiene mein Brot. — Was meinst du dazu, Toni?»
«Sehr gut, Gälfink!» kreischte ein feines Stimmchen.
Seppel hörte «Gälfink», ward vor Zorn rot wie eine Himbeere und fuhr den Schreiner wütend an:
«Warum sagst du mir eine Grobheit?»
«Wer?» —
«Du! — Gälfink hast du mich geheißen!»
«Aber ich nicht!»
«Wer denn? vielleicht ich selber? — Lüg nicht! — Du hast’s gesagt!»
«Nein!»
«Doch!»
«Nein!!»
«Doch!!»
Immer hitziger wird der Streit. Mit Worten ist ihr Zorn nicht mehr zufrieden: schon packen sie sich an den Kitteln; der eine schlägt, der andere beißt; jetzt ringen sie miteinander auf dem Boden; jetzt schnellen sie beide auf und lassen einander los. Zwei Siegern gleich stehen sie da, einer stolzer wie der andere. Der Schnefler zerknittert Tonis Zipfelmütze in seiner Faust; Meister Pflaum aber schwingt als Siegesfahne den künstlichen Haarwuchs des «Gälfinken».
Eine Zeitlang schauen sie sich triumphierend an; dann sagt der Schreiner:
«Gib mir meine Mütze her!»
«Wenn du mir meine Perücke gibst.»
Lachend tauschten die beiden Alten ihre Beute aus, gaben einander die Hand und versprachen treu und fest, nie mehr zu raufen, sondern stets gute Freunde zu bleiben.
«Nun denn, lieber Seppel», fing der Schreiner an, «womit kann ich dir dienen?» —
«Ich suche ein Stück Holz für meinen Hampelmann; hast du ein passendes?»
Toni nahm das Scheit von der Hobelbank, das ihm so viel Angst eingejagt hatte, und wollte es dem Freunde in die Hand geben.
Wupp!! — Das Scheit schnellt dem guten Meister Pflaum aus der Hand, überschlägt sich und versetzt dem armen Seppel einen derben Hieb auf die harten Knochen seiner Schienbeine.
«Au!! — au!! — So, Toni! — Ist das die Freundschaft? Die Beine hast du mir halb abgeschlagen! — Au!»
«Ich habe es nicht getan; du kannst es mir glauben.»
«Dann bin ich es wieder selbst gewesen!»
«Das Holzscheit war’s.»
«Rede nicht so einfältig! Du hast es mir an die Beine geschlagen!»
«Es ist nicht wahr!»
«Verlogener Kerl!»
«Seppel, keine Unarten! — Sonst heiße ich dich Gälfink.»
«Esel!»
«Gälfink!»
«Ochs!»
«Gälfink!»
«Dummer Affe!»
«Gälfink!»
Dreimal «Gälfink», das war für Seppel zu viel. Es ging ihm Hören und Sehen aus, er stürzte auf den Schreiner los, und der Kampf entbrannte hitziger als zuvor.
Schließlich hatte der Schreiner-Toni zwei rote Kratzer mehr auf seiner blauen Pflaumennase; dem Seppel aber fehlten zwei weitere Knöpfe an der Weste. — Ihre Rechnung war damit ausgeglichen; sie drückten einander die Hand und gelobten sich aufs neue ewige Freundschaft.
Seppel nahm sein Holzscheit, dankte dem guten Meister Pflaum, und obgleich ihn sein Bein noch schmerzte, hinkte er doch fröhlich nach Hause.
Drittes Stück
Bengele kommt auf die Welt. — Seine ersten Spitzbubereien
Ein kleines Zimmer zu ebener Erde war Seppels ganze Wohnung. Es hatte ein einziges Fenster und war nur notdürftig ausgestattet. Ein wackeliger Stuhl, ein wurmstichiger Tisch, ein elendes Bett, das waren die Möbel des armen Schneflers. — In der Ecke stand ein kleiner eiserner Ofen; er brannte lustig, und das Wasser in dem Topfe, der darauf stand, kochte und dampfte, daß es eine Freude war.
Als Seppel nach Hause kam, nahm er gleich sein Werkzeug und fing an, den Hampelmann zu schnitzen.
Es quälte ihn nur noch eine Sorge. Er wackelte mit dem Kopfe hin und her, sann und dachte und fragte sich: «Ein Name!? — Ein Name!? — Was für einen Namen soll ich meinem Hampel geben?» Plötzlich sprang er auf, griff sich an die Stirne und sagte:
«Ja! — ›Bengele‹ muß er heißen. Das ist ein schöner Name und er bringt ihm Glück. Ich habe eine ganze Familie Bengele gekannt: der brave Vater Bengele, die fleißige Mutter Bengele, die Bengele Buben, alle so tüchtig, und allen ist es in der Welt gut gegangen. Einer von ihnen hat sogar Kienholz in der Stadt verkauft.»
Als Seppel den Namen gefunden hatte, arbeitete er mit doppeltem Eifer. — Schon konnte man die Haare, die Stirne, die Augen des Hampelmannes erkennen.
Wie zittert da plötzlich die Hand des emsigen Schnitzers! — Die Holzaugen rollen wie Glaskugeln, bleiben stehen und schauen den Meister starr und steif an.
Seppel wurde stets ärgerlich, wenn ihn jemand fixierte, und sagte jetzt gereizt:
«Stiert mich nicht so blöde an, ihr hölzernen Glotzaugen!»
Allein die Augen kümmerten sich um des Meisters Worte nicht. — Verstimmt arbeitete Seppel weiter und formte die Nase.
Eine neue Überraschung! — Aus dem Gesichte heraus wächst und wächst das Holz, und in wenigen Minuten steht eine Nase da, so lang und spitz wie eine Gelbrübe.
Alle Mühe, sie kurz und stumpf zu schneiden, ist verloren; je mehr der arme Seppel schnitzt, desto schneller wächst die Nase. Er mußte sie schließlich lassen, wie sie wachsen wollte.
Geduldig fuhr er fort zu arbeiten und bildete den Mund. — Eine andere Ungezogenheit: der Hampelmann lacht und schneidet Grimassen.
«Laß das dumme Lachen!» gebietet der Meister; aber alles Reden ist umsonst.
«Laß mir das Lachen, ich sag’ es dir zum letzten Male!» Siehe da! Der Kleine lacht nicht mehr, er streckt aber die Zunge weit heraus.
Seppel wollte sich nicht mehr stören lassen, tat, als merke er nichts, und schaffte ruhig weiter. Das Kinn, der Hals, die Schultern, der Leib, die Arme, die Hände des hölzernen Männleins gelangen dem Künstler tadellos. — Seppel schnitzte eben die Füße, als er merkte, daß ihm jemand die Perücke vom Kopfe zog. Er schaute auf und sah — nein, diese Buberei! — die Kopfbedeckung in der Hand des Hampelmanns.
«Bengele, setze mir gleich die Perücke wieder auf!»
Der Schlingel aber hatte sich die gelbe Mütze schon über den eigenen Kopf gezogen und stak so tief darin, daß er schier erstickte. All diese Unarten des Hampelmanns verdarben dem wackern Seppel die gute Laune. Traurig und wehmütig hielt er mit der Arbeit inne und sprach:
«Womit habe ich das verdient? — Wollte ich nicht einen schönen braven Hampelmann zuwege bringen? — Und nun! — Was soll das noch werden? — Er ist ein Schlingel, noch ehe er fertig ist. Ich fürchte, ach, er wird ein Unglücksbube.»
Tränen glänzten dem guten Alten in den Augen. Er hätte am liebsten aufgehört zu schnitzen; aber nun wollte er doch den Zauberhampel ganz ausführen.
Unter des tüchtigen Meisters Hand entstanden ein Paar zierliche Beine und Füße.
Seppel freute sich seiner Kunst, da — erhielt er einen Tritt auf die Nasenspitze.
«Ich habe es nicht besser verdient», murmelte er, «ich hätte das alles früher erwägen müssen; jetzt ist es zu spät. — Hätte ich doch nie an einen Zauberhampel gedacht!»
Nun war das Werk vollendet, und der Meister sollte bald Zauber genug erleben.
Seppel nahm seinen hölzernen Bengele und stellte ihn auf den Boden, damit er das Gehen lerne.
Der Hampel hatte steife Glieder und konnte noch nicht marschieren. Vater Seppel führte ihn an der Hand und zeigte ihm, wie man einen Fuß vor den andern stellt.
Bald waren die Beine gelenkig und Bengele konnte allein im Zimmer einhergehen. Auf einmal bemerkte er die Türe, ein Sprung auf die Straße, und er rannte davon. Gleich lief ihm Seppel nach; aber er konnte ihn nicht mehr einholen. Der Hampelmann sprang wie ein Hase. Wie klapperten seine Holzfüße auf dem Straßenpflaster! Hundert Bauernkinder, die mit Holzschuhen zur Kirche kommen, hätten keinen ärgeren Lärm machen können.
«Haltet ihn! — Packt ihn!» schrie Vater Seppel. Aber die Leute auf der Straße blieben alle höchst verwundert stehen, als sie den hölzernen Hampelmann wie einen Pudel rennen sahen. Dann fingen sie an zu lachen, und lachten so toll, daß man sich’s gar nicht vorstellen kann.
Zum guten Glück kam ein Schutzmann. Der hatte den Spektakel gehört und dachte, es sei mal wieder ein Pferd durchgebrannt. Drum stellte er sich mit gespreizten Beinen mitten auf die Straße und war fest entschlossen, den Gaul zu halten und größeres Unglück zu verhüten.
Bengele hatte schon von weitem das Hindernis erkannt, das ihm die ganze Straße versperrte. Da kam dem Hampelmann ein schlauer Gedanke. Er rannte im vollen Laufe auf den Schutzmann zu, bückte sich flink und wollte ihm zwischen den weit gespreizten Beinen durchschlüpfen.
Aber er hatte sich verrechnet. Der stramme Polizist rührte sich nicht vom Platze. Mit einer geschickten Handbewegung hatte er schon den Durchbrenner gefaßt. Ratet mal, wie? — Die Nase war Bengeles Unglück. Sie war ja viel zu lang; der Schutzmann erwischte sie und hielt ihn daran fest.
Er übergab den Schlingel gleich dem Vater Seppel. Schon wollte ihm dieser eine kräftige Ohrfeige geben, aber es ging nicht. Ratet mal, warum? — In seiner Eile hatte der Schnefler dem Hampelmann keine Ohren geschnitzt.
Da faßte der Meister den Kleinen im Genicke und schob ihn fort. Bengele sperrte sich, so gut er konnte; aber es half ihm nichts. Seppel wackelte ganz bedenklich mit dem Kopfe und sprach:
«Marsch, nach Hause! Paß nur auf, daheim wollen wir miteinander abrechnen.»
Da der Wind von dieser Seite pfiff, wollte Bengele nicht mehr weiter und legte sich langwegs auf den Boden. Es dauerte nicht lange, so kamen auch schon ein Paar Straßenbummler und stellten sich um die beiden herum. Sie schwatzten hin und her. — «Armes kleines Hampelchen», meinte einer, «du hast ganz recht, wenn du nicht nach Hause willst. Der Seppel ist ein Grobian und wird dich halbtot schlagen.»
Andere spöttelten boshaft und sagten:
«Der Schnefler-Seppel! — Ja, ja! — Er hat ein zuckersüßes Gesicht. Aber man kennt ihn. Ein Unmensch ist er, ein Rabenvater. Bei diesem Ungeheuer wird der unschuldige Kleine gut aufgehoben sein! Seht doch mal wieder die kluge Polizei.»
Immer größer ward die Menschenmenge, immer lauter ihr Schimpfen. Da kam der Schutzmann wieder, verhaftete den Meister Seppel und führte ihn fort ins Gefängnis.
Der unglückliche Alte tat keine Widerrede. Er weinte still und sprach:
«Der Zauberhampel wird mein Sorgenkind. — Wie habe ich mir doch Mühe gegeben, einen ordentlichen Kleinen aus dem Holze zu schneiden! — Wenn man doch nur an alles vorher denken könnte! Jetzt bin ich selber schuld an meiner Schande.»
Guter Vater Seppel, das war nur ein schwacher Anfang. Wenn du ahnen könntest, was für Sorgen und Leiden dein Zauberhampel noch über dich bringt, du müßtest völlig verzweifeln.
Viertes Stück
Bengele und Lispel-Heimchen
Seppel wurde unschuldig ins Gefängnis geführt, Bengele, der Schlingel, war frei.
Hättet ihr ihn sehen können, wie er davonlief! Er wollte keinen einzigen Menschen mehr sehen, sprang zur Stadt hinaus in die Felder, setzte über hohe Dornhecken und dichte Brombeerstücke, er machte Sprünge über Löcher und Wassergräben wie ein flinkes Reh und irrte ziellos umher wie ein gehetzter Hase.
Endlich kam er nach Hause. Die Türe stand noch offen. Er trat ein und schlug sie hinter sich zu. Dann setzte er sich mitten in der Stube auf den Boden, holte tief Atem und stieß die Luft wieder aus mit einem langen, zufriedenen: Aaah!
Leider dauerte seine Behaglichkeit nicht lange. Es gab ein Geräusch im Zimmer, ein Zirpsen: Kri-kri-kri! — Bengele schaute überall herum und fragte furchtsam:
«Was soll das heißen? — Wer ist denn hier?»
«Ich!» lispelte ein zartes Stimmchen. Bengele drehte sich um und sah eine schwarze Grille langsam die Wand hinaufklettern.
«Wer bist du?»
«Ich bin das Lispel-Heimchen und wohne seit hundert Jahren in diesem Zimmer.»
«Das aber von heute an mir gehört», ergänzte Bengele grob diese Worte. — «Bitte, mache dich aus dem Staube und laß es dir nicht zweimal sagen.»
«Wenn es sein muß, kann ich gehen. — Darf ich dir vor dem Abschied noch eine gute Lehre geben?»
«Meinetwegen! — aber kurz!»
«Schlecht geht es allen Kindern, die nicht auf ihre Eltern hören und eigenmächtig aus dem Hause laufen. Sie rennen ins Unglück und müssen einmal ihren Ungehorsam bereuen.»
«Predige nur, du Grillenkopf, und quiekse, solange es dir beliebt. Trotzdem gehe ich morgen früh schon wieder fort. Dann kannst du hier wieder einziehen. Mir gefällt es nicht. Wenn ich bleibe, so schickt man mich morgen zur Schule, und — gern oder ungern — müßte ich etwas lernen. Aber, offen gestanden, dazu habe ich gerade am wenigsten Lust. Schmetterlinge jagen und Vogelnester ausheben ist viel schöner!»
«O du Gescheitele! Weißt du, wieweit man es damit bringt? — Du wirst bald ein großer Esel sein und alle lachen dich aus!»
«Hältst du gleich den Schnabel, du schwarze Unglücksgrille», schimpfte Bengele.
Aber Lispel-Heimchen bewahrte sein kaltes Blut und seine ernste Ruhe; es nahm dem Schlingel die Unart nicht übel und fuhr in ernstem Tone fort:
«Wenn es dir nicht paßt, in die Schule zu gehen, so lerne ein Handwerk; dann kannst du dir doch das Brot verdienen!»
Dem Bengele ging jetzt die Geduld aus und er sagte spitz:
«Weißt du, Piepser, welches Handwerk mir am besten gefällt?»
«Nein!»
«Also paß auf! — Gut essen und trinken, schlafen und spielen und den lieben langen Tag auf der Straße herumstreichen, das ist das schönste Handwerk!»
«Mag sein, aber merke dir wohl: alle, die es treiben, endigen einmal im Krankenhaus oder im Zuchthaus.» So sagte mit kalter Seelenruhe Lispel-Heimchen.
«Nimm dich in acht, Grillenköter, mit deiner bösen Zunge! Wenn mir die Galle steigt! … Nimm dich zusammen!…»
«Armer Bengele, du tust mir wirklich leid!»
«Warum soll ich dir leid tun?»
«Du bist halt ein Hampelmann und hast einen Holzkopf.»
Jetzt schnellte Bengele wütend vom Boden auf, riß einen Holzhammer von der Schnitzelbank und schleuderte ihn gegen das Lispel-Heimchen.
Vielleicht wollte er daneben zielen; aber der Hammer flog dem Tierchen gerade auf den Kopf. — Lispel-Heimchen zirpte eben noch: kri-kri-kri, dann ging ihm der letzte Atem aus, und es blieb wie eine getatschte Fliege an der Wand hängen.
Fünftes Stück
Ein Eierkuchen, der davonfliegt.
Indessen war es Abend geworden, und Bengele erinnerte sich, daß er noch nichts gegessen hatte. Er spürte eine Leere im Magen und fühlte starken Appetit. Im Handumdrehen war der Appetit schon Hunger und verlangte gestillt zu werden.
Auf dem eisernen Ofen in der Ecke stand ein Topf. Das Hampelchen hob den Deckel ab und schaute hinein. — Nichts als Wasser. Bengele sah sein dummes Gesicht darin abgespiegelt und setzte kopfschüttelnd den Deckel wieder auf den Topf.
Das hungrige Hampelchen rannte im Zimmer auf und ab, zog alle Schubladen aus, öffnete alle Kästchen. — O daß er doch ein Stückchen Brot finden könnte, wenn es auch ganz trocken wäre! Sogar mit einer alten, harten Kruste hätte er sich begnügt, aber gar nichts war da auf Vorrat bei seinem armen Vater Seppel.
Indes wurde der Hunger immer stärker und Bengele fing an zu gähnen. Er riß den Mund entsetzlich auf und glaubte, sein Magen gehe ihm davon. Mutlos und verzweifelt fing er an zu weinen und sprach:
«Ja, ja! Lispel-Heimchen hat doch recht gehabt und hat es so gut mit mir gemeint. — Aber ich war eigensinnig und unartig; ich habe dem Vater nicht gehorcht und bin ihm davongelaufen. — Wenn doch nur der Vater da wäre! — Durch meine Schuld ist er ins Gefängnis gekommen, und ich muß daheim vor Hunger sterben. — Der Hunger tut so weh; er ist eine schreckliche Krankheit.» —
Hurra! — Dort liegt etwas auf dem Kehrichthaufen. Bengele springt hin, hebt es auf und ruft:
«Ein Ei! Ein Ei!» — Der halbverhungerte Hampelmann kann sein Glück kaum fassen. Er hält das Ei in beiden Händen, drückt es an die Wangen, küßt und streichelt es.
«Jetzt mache ich mir einen Eierkuchen», sagt er überglücklich, «oder soll ich es einschlagen? — oder weichkochen? — Das Einschlagen geht am schnellsten; ich kann nicht mehr lange warten mit meinem Hunger.»
An der Wand hing eine Bratpfanne. Er holte sie herab und stellte sie auf die Kohlenglut, über der Vater Seppel den Leim kochte. Butter oder anderes Fett war nicht da. Bengele goß Wasser in die Pfanne und blies die Kohlenglut neu an. Das Wasser begann ein wenig zu dampfen, da nahm er das Ei, schlug es auf den scharfen Rand der Pfanne und … —
«Pieps, pieps!» begrüßte ihn ein lustiges buntfarbiges Vögelchen; es kroch flink aus dem Ei, setzte sich auf den Pfannenstiel, schlug die Flügel und putzte sich. Dann machte es dem Bengele ein artiges Kompliment und sang mit heller Stimme:
Mein kleiner Freund, ich danke dir; Du hast mich heut befreit. Ich schwing’ mich fort, weit fort von hier
Zur Waldeseinsamkeit.
Halbflügg’ entflog dem Elternpaar
Ich aus dem Nest heraus
Und schlief verzaubert hundert Jahr’
In diesem weißen Haus.
Adieu! Leb wohl, mein Bengelein!
Ich laß den Vater grüßen. — Des Eigensinnes Diener sein, Muß jeder bitter büßen.
Mit großen Augen und offenem Munde, die Eierschalen in der Hand, hörte der Hampelmann des Vögleins Lied. Der kleine Sänger flog fort durchs offene Fenster; der Hampelmann aber weinte zum Erbarmen und sprach: «Lispel-Heimchen und das Vögelein haben ganz recht. — Ich muß vor Hunger sterben. — Wäre ich doch nicht davongelaufen. — Ja, ich muß es büßen, ich sterbe vor Hunger.»
Immer schlimmer knurrte der Magen. Es war schon spät abends. Bengele wagte das Äußerste, ging zum Hause hinaus und lief aufs Geratewohl fort.
«Ich werde doch irgend einen guten Menschen finden, der mir ein wenig zu essen gibt», das war sein einziger Gedanke.
Sechstes Stück
Bengele geht betteln. — Die abgebrannten Füße.
Schauerlich kam die Nacht. Krachend rollte der Donner und es blitzte in einem fort, daß der Himmel aussah wie ein Feuermeer. Dazu pfiff ein schneidigkalter Wind, jagte Staubwolken vor sich her und schüttelte die Bäume, daß sie laut ächzten.
Bengele hatte schrecklich Angst bei Gewittern. Aber heute war sein Hunger größer als die Angst. Er schlug einen Feldweg ein und kam nach kurzer Zeit in ein Dörfchen. Alles war still und dunkel, die Haustüren und die Fenster samt und sonders geschlossen, kein Hund auf der Straße, die reinste Friedhofsruhe.
In seinem verzweifelten Hunger zog Bengele eine Hausglocke und läutete kräftig und lange.
«Irgend ein Mensch muß doch zum Vorschein kommen», dachte er.
Richtig! — Ein alter Mann öffnete das Fenster. Er hatte die Nachtmütze auf dem Kopfe und brummte sehr ärgerlich:
«Wer kommt noch um diese Zeit?»
«Gebt mir doch um Gottes willen ein Stückchen Brot, ich muß sonst verhungern», gab Bengele zur Antwort.
«Warte ein wenig, ich bringe es gleich.»
Der Mann aber dachte: «Das ist mal wieder einer von den nichtsnutzigen Schlingeln, die nachts die Hausglocken ziehen, weil sie ordentliche Leute im Schlafe stören wollen.»
Nach wenigen Augenblicken kam der Alte wieder ans Fenster und rief:
«Komm, halte deinen Hut hierher!»
Bengele hatte noch keinen Hut. Er trat also unter das Fenster und hielt beide Hände in die Höhe, um das herabfallende Stück Brot wie einen Ball aufzufangen. — Da ergoß sich über ihn der volle Inhalt eines Waschbeckens. Er wurde naß von oben bis unten und triefte wie ein Blumenstock, den man mit der Kanne abgespritzt hat.
Traurig wie ein verregneter Pudel trottelte der unglückliche Hampelmann nach Hause. Erschöpft von Hunger und Müdigkeit kam er heim; die Glieder schlotterten ihm vor Kälte.
Noch waren ein paar glimmende Kohlen in dem Becken, über dem Vater Seppel den Leim kochte. Bengele blies sie ein wenig an und wärmte sich die Hände. Dann holte er den wackeligen Stuhl und setzte sich vor die Glut. Seine feuchtkalten Füße legte er auf den Rand des Beckens, und so schlief er ein.
Nach und nach fingen die Holzfüße Feuer über der Kohlenglut und verbrannten zu Asche. — Bengele schnarchte und merkte nichts. Erst bei Tagesanbruch wachte er auf; denn es hatte laut an der Türe geklopft.
«Wer ist draußen?» fragte Bengele noch ganz verschlafen, gähnte und rieb sich die Augen aus.
«Ich!» kam die Antwort. Es war der Vater Seppel.
Bengele sprang schnell auf, um den Riegel an der Türe zurückzuschieben; aber schon nach zwei, drei Stelzschritten fiel er auf den Boden.
Das gab einen Lärm, als wäre ein Sack voll Kochlöffel vom fünften Stock aufs Pflaster gefallen.
«Mach mal auf», rief Seppel immerfort auf der Straße.
«Vater, lieber Vater, ich kann ja nicht», heulte Bengele und rutschte auf dem Boden herum.
«Warum kannst du nicht?»
«Meine Füße sind abgefressen!»
«Wer hat sie abgefressen?»
«Die Katze», sagte Bengele. — Denn er sah gerade die Katze vor sich, die mit ein paar Hobelspänen spielte.
«Ich sag dir’s zum letztenmal, mach auf, sonst geb’ ich dir nachher die Katze!»
«O jeh! Ich kann nicht mehr stehen, glaub mir’s doch! — Jetzt muß ich mein Leben lang auf den Knieen rutschen.»
Seppel dachte, hinter all dem Gerede stecke nur eine neue Spitzbuberei des Hampelmanns, und wollte ihr gleich ein Ende machen. Er hielt sich am Fenstergesimse fest, zog sich an der Mauer empor und stieg wie ein Feuerwehrmann ins Zimmer hinein.
Siebtes Stück
Bengeles Morgenbrot.
Die ganze Nacht hatte man den Vater Seppel im Gefängnis festgehalten. Am frühen Morgen wurde er vor den Richter geführt. Alsbald erkannte dieser, daß der alte Mann unschuldig sei, und ließ ihn frei. Frohen Mutes kam der Schnefler nach Hause. Er hatte dem kleinen Taugenichts alles verziehen; aber jetzt erlebte er eine neue Schlingelei, und dafür wollte er den Hampelmann kräftig bestrafen.
So dachte der Schnefler, als er zum Fenster hinein in seine Wohnung stieg; aber was mußte er hier erblicken! — Mit abgebrannten Füßen kauerte der arme Hampelmann auf dem Boden und weinte und schluchzte. Dieser Jammer ging dem Vater zu Herzen. Er hob den kleinen Holzmann auf, herzte und küßte ihn.
«Bengele, mein lieber Bengele», sagte er dabei voll Mitleid, «wie hast du dir nur die Füße so verbrennen können! Du armer, kleiner Hampelmann!»
Da erzählte ihm das hölzerne Söhnchen seine Erlebnisse:
«Ich weiß es selber nicht, lieber Vater; aber glaub mir nur, es war eine schauerliche Nacht, und ich werde sie meiner Lebtag nicht vergessen. — Gedonnert hat es und geblitzt, und ich habe so arg Angst gehabt. Dann sagte Lispel-Heimchen: ›Es geschieht dir recht, du bist ein böser Bube und verdienst es!‹ Ich hab’ ihm gesagt: ›Paß auf!‹… Und es sagte: ›Du bist ein Hampelmann und hast einen Holzkopf!‹ Und ich hab’ ihm den Hammer nachgeworfen; und es starb. Aber es war selber schuld; ich habe es nicht umbringen wollen. Ich hab’ auch ein Pfännchen auf das Kohlenbecken gestellt; aber das Hinkelchen ist davongeflogen und hat gesagt: ›Adieu! Ich laß den Vater grüßen; man muß es bitter büßen.‹ — Ich habe immer noch mehr Hunger bekommen, und dann hat der Alte mit der Nachtmütze zum Fenster herausgeguckt und gesagt: ›Komm, halte deinen Hut hierher!‹ Und ich bekam eine ganze Schüssel voll Wasser auf den Kopf. Es ist doch keine Schande gewesen, daß ich ein Stücklein Brot gebettelt habe, gelt nicht? — Ich ging gleich heim und hatte immer noch so arg Hunger. Und ich habe so nasse, kalte Füße gehabt. An den Kohlen wollte ich sie wärmen. Dann bist du heimgekommen, und meine Füße waren abgebrannt. Jetzt habe ich immer noch Hunger und keine Füße mehr, ojeh… eh… eh …!»
Dem guten Vater Seppel rannen die Tränen über die Wangen, als er die traurige Geschichte seines Zauberhampels hörte.
Er hatte allerdings von der ganzen Erzählung nur so viel verstanden, daß der Kleine fast Hungers sterbe. Deshalb zog er drei Birnen aus der Tasche, gab sie ihm und sprach:
«Iß und werde wieder froh! — Ich habe mir das Obst zum Frühstück gekauft; aber du armes Hampelchen bist hungriger wie ich.» —
«Sei so gut und schäle mir die Birnen!» «Schälen?» — Verwundert schüttelte Vater Seppel den Kopf. — «Bist du so verwöhnt und heikel? Das taugt nichts, Bengele. Ein Feinschmecker darfst du mir nicht werden. Wer weiß, wie es dir noch gehen kann im Leben!»
«Du hast schon recht, Vater; aber ich esse nie Obst mit Schalen, sonst bekomme ich Leibweh.»
Seppel zog sein Taschenmesser heraus und schälte dem Kleinen die drei Birnen. Die Schalen legte er hübsch zusammen auf den Tisch.
Bengele hatte von der ersten Birne nur noch den Butzen in der Hand und wollte ihn wegwerfen. Seppel hielt ihm den Arm und sagte:
«Langsam, mein Lieber; das legen wir zu den Schalen.»
«Aber den Butzen esse ich niemals», sagte das Hampelchen und tat dabei sehr entrüstet.
«Wer weiß? — Versprich nicht zu viel!» mahnte der kluge Vater.
Die Butzen kamen zu den Schalen auf den Tisch. Bengele hatte mit Heißhunger die drei Birnen verzehrt, machte ein verdrießliches Gesicht, gähnte weit und sprach:
«Ich habe noch mehr Hunger.»
«Aber, liebes Kind, es ist nichts mehr da.»
«Gar nichts mehr?»
«Nur noch diese Schalen und Butzen.»
«Dann will ich einmal eine Schale versuchen.»
Er aß sie, verzog anfangs ein wenig den Mund; aber dann ging’s auch an die andern, und schließlich schmeckten ihm sogar die Butzen mit den Kernen. Als der Tisch ganz leer war, streckte sich der Hampelmann, fuhr mit der Hand über sein Bäuchlein und meinte:
«So! — jetzt bin ich wieder hergestellt.»
«Na!» bemerkte Vater Seppel, «hatte ich nicht recht? Mit dem ›Niemals‹ muß man vorsichtig sein. Man weiß nie, wie es kommt in der Welt. — Bengele, du wirst noch manches erleben.»
Achtes Stück
Bengele erhält neue Füße. — Das ABC-Buch.
Nach dem Frühstück wäre der Hampelmann am liebsten ein wenig herumgesprungen. — Es ging nicht, weil er keine Füße hatte. Traurig und unzufrieden saß er eine Zeitlang auf dem Stuhle und fing dann an bitterlich zu weinen.
Den ganzen Vormittag kümmerte sich Vater Seppel gar nicht um das Gejammer; denn Bengele sollte für seinen Ungehorsam auch die Strafe spüren.
Schließlich sagte der Meister:
«Wozu soll ich dir neue Füße machen! Allenfalls rennst du mir wieder davon.»
«Nein, nein», schluchzte Bengele, «von heute an werde ich ganz brav sein; ich verspreche es…»
«Ja, ja», antwortete Vater Seppel, «so sagen die Kinder alle.»
«Sicher, im Ernste! ich verspreche es dir, Vater; ich gehe in die Schule und mache dir Freude.»
«Immer die gleiche Geschichte, wenn die bösen Buben etwas haben wollen.»
«Aber ich bin keiner von denen, ich bin bräver als alle und lüge nie. Ich verspreche es dir noch einmal: Ich will etwas Rechtes werden, dir Freude machen und dir helfen, wenn du einmal alt bist.»
Vater Seppel machte immer noch ein saueres Gesicht. In den Augen aber standen ihm die Tränen und sein Herz war voll Mitleid mit dem verkrüppelten Hampelmann.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm er sein Werkzeug, wählte zwei Stücke Holz und begann zu schnitzen. Nach einer Stunde waren die beiden Füße fertig. Kein Künstler hätte sie trefflicher formen können.
«Mache die Augen zu und schlafe ein wenig!» befahl der Vater Seppel.
Bengele stellte sich schlafend. Indes leimte der Meister so zierlich die neuen Füße an die Beine, daß man den Unterschied kaum bemerken konnte.
Als der Hampelmann wieder Füße hatte, war er grenzenlos glücklich. Er hüpfte im Zimmer herum, schlug ein Dutzend Purzelbäume, klatschte mit seinen Holzhänden und sprach:
«Vater, wie bist du so gut gegen mich! — Jetzt will ich auch gleich zur Schule gehen.»
«Recht so, mein Sohn!»
«Aber ich sollte ein Kleid haben.»
Vater Seppel war schrecklich arm. Den letzten Pfennig hatte er ausgegeben; aber er wußte sich zu helfen. Das Hampelchen erhielt ein Gewand von geblümtem Papier, Schuhe von Baumrinde und eine Kappe von weichem Brot.
Bengele goß Wasser in eine Schüssel und spiegelte sich darin. Er schaute an sich herunter, neigte sich nach links und rechts und meinte:
«Wie ein feiner Herr sehe ich jetzt aus!»
«Sei nicht eitel!» mahnte der Vater. «Wir sind arme Leute und können keine teuern Stoffe kaufen. Auch ein einfaches Kleid ist schön, wenn es rein ist. Das merke dir wohl und achte auf dein Gewand!»
Bengele hörte nie gern gute Lehren an. Er lenkte das Gespräch auf etwas anderes und sagte:
«Wenn ich zur Schule gehen soll, fehlt mir immer noch die Hauptsache.» —
«Nämlich?» —
«Das ABC-Buch!»
«Wahrhaftig! — Aber wie eines bekommen?»
«Man kauft es beim Buchhändler.»
«Wer bezahlt es?»
«Ich habe kein Geld!»
«Ich auch nicht», sagte traurig der alte Vater.
Bengele war sonst immer lustig und froh; aber jetzt ward er ernst und unglücklich. — Auch ein Kind begreift und fühlt es, wie bitter die wahre Armut ist.
«Bleibe ein paar Minuten allein!» unterbrach Vater Seppel das düstere Schweigen. Er zog seinen groben Kittel an und ging zum Hause hinaus.
Bald kehrte der alte Mann zurück und brachte ein ABC-Buch für seinen Kleinen mit. Den Kittel hatte er nicht mehr an. — Der Arme ging hemdärmelig, und schon fing es an zu schneien. Als er ins Zimmer trat, fragte Bengele:
«Dein Kittel, Vater?»
«Ich habe ihn verkauft.»
«Warum hast du ihn nicht behalten?»
«Er machte mir zu warm. — Hier hast du dein ABC-Buch.»
Der hölzerne Hampelmann fühlte in diesem Augenblick die große, unergründliche Liebe, die aus dem Vaterherzen sprach.
«Vater, lieber Vater!» konnte er nur sagen, hing sich dem guten Alten an den Hals, küßte ihn und schmiegte sich zärtlich an seine Wangen.
Neuntes Stück
Bengele verkauft das ABC-Buch und geht ins Kasperletheater.
Am andern Morgen nahm Bengele das ABC-Buch unter den Arm und machte sich auf den Weg zur Schule. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, er baute prächtige Luftschlösser und redete vor sich hin:
«Jetzt gehe ich in die Schule und bis heute abend kann ich schon lesen; morgen lerne ich schreiben, übermorgen rechnen! Geschickt wie ich bin, verdiene ich bald viel Geld, und zu allererst kaufe ich meinem Vater einen schönen Kittel. — Von feinem Tuch muß er sein! — Was, Tuch? — Nein, von Gold und Silber und die Knöpfe Edelsteine! Der arme Mann verdient’s! Hemdärmelig muß er einhergehen, damit ich mit meinem Buch zur Schule gehen kann. — Und diese Kälte! Wie gut ist mein Vater, wie sehr liebt er mich! Nie will ich es vergessen und fleißig lernen.»
Das Hampelchen war so in seinen guten Gedanken versunken, daß es eine Weile stehen blieb.
Da klingt aus der Ferne fröhliche Musik an sein Ohr. Deutlich waren die hellen Flöten zu unterscheiden: di-dideldi, di-dideldi — und der große Brummbaß: bum-bumbum, bum-bumbum.
Die Töne kamen vom andern Ende einer langen Straße, die hinaus ans Meer führte. Dort lag vor der Stadt ein großer, freier Platz.
«Was für Musik das ist? — Schade, daß ich heute zur Schule muß, sonst…»
Schon schwankten die guten Vorsätze. — Bengele stand am Scheidewege: zur Schule oder zur Musik.
«Heute höre ich die Musik an — morgen gehe ich zur Schule. Für die Schule ist immer noch Zeit, sie läuft nicht davon.»
So entschied sich der Schlingel. — Alle guten Vorsätze waren vergessen; er schlug die Seitenstraße ein und lief zur Stadt hinaus. Immer deutlicher ward die Musik, immer mehr Menschen gingen denselben Weg. — Bengele kam auf den großen Platz und sah die Musikanten am Eingang einer buntbemalten Meßbude. Eine Menge Leute stand davor, und Bengele fragte einen Knaben:
«Was kann man hier sehen?»
«Lies den Zettel dort, so weißt du es.»
«Ich tät’ es gern, aber leider kann ich gerade heute noch nicht lesen.»
«Du bist ein netter Esel! — Ich will es dir lesen. Höre:
›Gros-ses Kas-per-le-the-a-ter!‹ So steht dort mit feuerroten Buchstaben.»
«Hat das Stück schon lange angefangen?»
«Eben geht es an.»
«Was kostet’s Eintritt?»
«Zwanzig Pfennig.»
Bengele brannte vor Neugier und schämte sich nicht, den Buben zu fragen:
«Willst du mir nicht bis morgen zwanzig Pfennig leihen?»
«Ich täte es gern», spottete ihn dieser aus, «aber heute kann ich es gerade nicht.»
«Für zwanzig Pfennig gebe ich dir meinen Kittel», sagte der Hampelmann.
«Was tue ich mit einem beblümten Papierkittel? Wenn es regnet, pappt er mir auf den Rücken!»
«Kauf mir meine Schuhe ab!»
«Mit denen könnte man allenfalls Feuer anmachen!»
«Was gibst du mir für meine Kappe?»
«Eine Kappe von weichem Brot! — Die Mäuse kommen und fressen sie mir vom Kopfe weg.»
Bengele trippelte von einem Fuß auf den andern. Der Mut ging ihm aus; er zögerte, er kämpfte mit sich selber, endlich sagte er:
«Gib mir zwanzig Pfennig für dies ABC-Buch!»
«Ich kaufe nichts von andern Kindern», sagte der kluge Knabe.
«Komm her! — Für zwanzig Pfennig nehme ich das ABC-Buch», rief ein Lumpenmann, der eben mit seinem Karren dazukam.
Sofort wurde der Handel abgeschlossen. —
Bengele, Bengele, hast du alles vergessen? Der arme Vater Seppel hat dir gestern das ABC-Buch gekauft, er hat dafür seinen einzigen Kittel drangegeben und geht jetzt hemdärmelig bei dem Schnee und der harten Kälte!
Zehntes Stück
Bengele und seine hölzernen Brüder.
Als der Hampelmann ins Theater eintrat, gab es eine halbe Revolution.
Der Vorhang war schon aufgezogen und das Spiel fing eben an. Auf der Bühne standen Kasperle und Hansele. Sie schimpften einander aus, und der eine drohte dem andern nach jedem zweiten Wort mit Ohrfeigen und Stockschlägen.
Die Zuhörer lachten laut über die Holzmännlein; denn sie händelten, fuchtelten und sagten einander so derb die Wahrheit wie richtig zornige Menschen.
Plötzlich hält der Kasperle inne. Er bleibt gegen die Zuschauer gewendet stehen, macht ein erstauntes Gesicht und deutet mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die hintersten Sitze. Dann kommt die Begeisterung des Schauspielers über ihn, und er spricht:
«Ihr leuchtenden Sterne des Himmels! — Wach ich, oder ist’s ein Traum? — Mein helles Auge sieht die Wirklichkeit; hier trügt kein Schein. In der Zuschauer letzten Reihe sitzt unser Bengele.»
«Der Bengele! — Er ist’s! — Der Bengele!» ruft Hänsele jetzt ebenso freudig entzückt.
«Der Bengele! — leibhaftig der Bengele», schreit auch Rosalinde und streckt die Nase zwischen den Kulissen heraus.
«Bengele! Bengele!» ertönt’s darauf in den verschiedensten Stimmen, und die Holzfigürchen hüpfen auf die Bühne hinaus.
Kasperle übertönt alle mit seinem Rufe:
«Komm her zu mir! — Komm herauf! — Komm an mein Herz! — Komm, Bengele! — Komm zu deinen hölzernen Brüdern!»
Die Einladung war zu lieb. — Der Hampelmann konnte nicht widerstehen. Er tat einen Sprung von seinem letzten Platze auf die ersten Sitze, einen zweiten auf den Kopf des Dirigenten, mit dem dritten war er auf der Bühne.
Was gab es da ein Wiedersehen! — Wieviel Küsse! Hier sah man die echte Geschwisterliebe. — Bengele fühlte sich selig in diesem tollen Durcheinander.
Der Anblick war rührend, ohne Zweifel; aber die Leute im Zuschauerraume wurden ungeduldig und riefen:
«Weiter machen! — Vorwärts! — Wir wollen das angefangene Stück.»
Was kümmerten sich die hölzernen Spieler darum! Der Lärm ward immer ärger. Sie hatten eben Bengele auf die Schultern gehoben und betrachteten ihn unter den Lichtern der Bühne.
Da trat Feuerschlund heraus, der Theaterdirektor. Er war ein schauerlicher Mann. Wer ihn ansah, bekam Angst. Er trug einen Bart, der so schwarz war wie ein Tintenklecks und so lang, daß er bis auf den Boden reichte. Sein Mund glich einem Backofen und Augen hatte er wie Straßenlaternen mit roten Scheiben. In seiner Hand wirbelte eine Hundepeitsche; aber die Riemen bestanden aus Schlangen und Wolfsschwänzen.
Bei seinem plötzlichen Auftreten ward es mäuschenstill. Alle hielten den Atem an. Man hätte eine Fliege hören können. Die armen Holzfigürchen, Männlein und Weiblein, zitterten wie Pappelblätter.
«Warum störst du mein Theater?» brüllte der Direktor den Bengele an, und seine Stimme war so rauh und gruselig wie die eines Menschenfressers, wenn er den Schnupfen hat.
«Verzeihung, geehrter Herr», winselte Bengele, «es war nicht meine Schuld.»
«Schon gut, das wollen wir nachher untersuchen!»
Als das Stück zu Ende war, ging der Direktor in seine Küche, wo ein ganzer Hammel für sein Nachtessen gerichtet war. Er hing an einem Spieß und wurde langsam über dem Feuer gedreht. Eben fehlte noch ein wenig Holz, um ihn fertig zu braten. Darum rief der Direktor den Kasperle und den Hansele und befahl:
«Holt mir den fremden Hampel her, den ich drinnen an den Nagel gehängt habe. Er hat sehr dürres Holz; damit kann ich den Hammel fertig braten.»
Kasperle und Hansele wollten nicht gleich gehorchen; aber ein wilder Blick des Direktors genügte, daß sie gingen.
Sie brachten den armen Bengele zur Küche. Umsonst drehte und wand er sich wie ein gefangener Fisch, umsonst war sein Jammern: «Vater, Vater, hilf, ich will nicht sterben, ich will nicht verbrennen.»
Elftes Stück
Feuerschlund muß niesen.
Der Direktor Feuerschlund sah aus wie ein Wüterich. — Denkt nur an seinen schwarzen Bart, der wie ein Schurz Brust und Beine bedeckte! — Aber im Grund war der schreckliche Mann doch nicht sehr böse. Als er den armen Bengele sah und ihn jammern hörte: «Ich will nicht sterben, ich will nicht verbrennen», wurde er weich und gerührt. Er wehrte sich eine Zeitlang gegen dieses Gefühl, schließlich aber konnte er sich nicht mehr halten und mußte laut niesen.
Kasperle stand bisher gebückt und kummervoll wie eine Trauerweide. Bei dem Niesen wurde er plötzlich heiter und sagte dem Bengele verstohlen und ganz leise:
«Ein gutes Zeichen, Brüderlein! Der Direktor hat niesen müssen. Er hat Mitleid mit dir; jetzt bist du gerettet!»
Wenn sonst die Menschen gerührt sind, weinen sie oder tun, als ob sie’s in den Augen bisse. Feuerschlund mußte in solchen Fällen immer niesen. Wer es wußte, merkte ihm gleich die innere Rührung an.
Nach dem Niesen setzte der Direktor wieder sein wildes Gesicht auf und fuhr den Bengele an:
«Laß das Heulen! Ich bekomme Magenweh von deinem Jammern; schon drückt mich’s wieder…» — Hatzi, hatzi! mußte er noch zweimal niesen.
«Gesundheit!» sagte Bengele.
«Dankschön! — Leben deine Eltern noch?» fragte Feuerschlund.
«Der Vater, ja! Die Mutter habe ich nie gekannt.»
«Was für ein Elend wäre es für deinen Vater, wenn ich dich jetzt ins Feuer geworfen hätte. Armer Vater, du tust mir leid…» hatzi, hatzi, hatzi, dreimal mußte er niesen.
«Gesundheit!» sagte Bengele.
«Dankschön! — Eigentlich muß ich dir aber auch leid tun. Schau da, ich habe kein Holz mehr, um den Hammel fertig zu braten, und du hättest gerade guten Dienst getan. Aber jetzt habe ich Mitleid mit dir und es ist nichts mehr zu machen. Ich will dafür einen von meinen Schauspielern aufs Feuer legen. — Heda! Gendarmen!»
Gleich erschienen zwei lange Holzgendarmen; sie trugen einen altmodischen Helm auf dem Kopf und schwangen ihre Säbel.
Mit rauher Stimme sagte der Direktor:
«Faßt den Kasperle, bindet ihn und legt ihn hier auf das Feuer. Mein Hammel muß gar werden!»
Denkt euch den Schrecken des unschuldigen Kasperle! Seine Beine knacksten zusammen, und er fiel stracks auf die Nase.
In diesem fürchterlichen Augenblick warf sich Bengele dem Direktor zu Füßen, weinte und flehte:
«Erbarmen, Herr Feuerschlund!»
«Herr Feuerschlund?» gab dieser barsch zurück.
«Erbarmen, Herr Direktor!»
«Direktor?»
«Erbarmen, Herr Hofrat!»
«Hofrat?»
«Erbarmen, Herr Geheimerat!»
«Geheimerat?»
«Erbarmen, Exzellenz!»
Beim Titel Exzellenz verzog der Direktor sofort den Mund zu einem feinen Lächeln; er wurde plötzlich artig und zugänglich und sagte zu Bengele:
«Nun, mein Lieber, was ist dein Begehr?»
«Ich bitte um Gnade fürs Kasperle.»
«Hier gilt keine Gnade mehr. Dich habe ich geschont, also muß ich einen andern aufs Feuer legen. Mein Hammel muß gar werden.»
«Dann» — stolz richtete sich Bengele auf und warf seine Mütze weit von sich wie ein Held — «dann kenne ich meine Pflicht. Vorwärts, Gendarmen, bindet mich und legt mich auf die Glut! Kasperle, mein aufrichtigster Freund, soll nicht meinetwegen sterben!»
All die hölzernen Leutchen jammerten laut; die beiden Gendarmen weinten wie kleine Kinder.
Feuerschlund blieb anfangs hart und unerbittlich; er schien so gefühllos und kalt wie ein Eisklotz. Aber dann faßte ihn langsam die Rührung, er mußte vier-, fünfmal niesen, nahm den Bengele zärtlich in seine Arme und sprach:
«Du bist ein braver Hampelmann! Komm her und gib mir einen Kuß!»
Bengele kletterte wie ein Eichhörnchen an dem Bart des Direktors hinauf und drückte ihm einen festen Kuß auf die Nasenspitze.
«Also bin ich begnadigt?» fragte Kasperle mit kaum hörbarem, dünnem Stimmchen.
«Begnadigt!» sagte Feuerschlund, seufzte und schüttelte den Kopf:
«Es geht nicht anders! Heute abend muß ich meinen Hammel halb roh essen. Aber einandermal! Es soll mir keiner so wieder kommen!»
Die Kunde von der Begnadigung trieb die hölzernen Schauspieler alle auf die Bühne. Sie zündeten sämtliche Lichter an wie bei einer Festvorstellung, hüpften und tanzten und waren lustig bis tief in die Nacht hinein.
Zwölftes Stück
Bengele erhält fünf Goldstücke. — Seine Freundschaft mit dem Fuchs und der Katze.
Am andern Morgen rief Feuerschlund den Bengele zu sich und fragte ihn:
«Wie heißt dein Vater?»
«Seppel!»
«Was treibt er für ein Handwerk?»
«Er ist arm.»
«Wieviel verdient er?»
«So viel, daß er nie einen Pfennig Geld in der Tasche hat! — Seinen einzigen Kittel hat er weggeben müssen, um mir ein ABC-Buch zu kaufen.»
«Der arme Mann tut mir leid! — Nimm hier diese fünf Goldstücke und bringe sie ihm mit einem Gruß von mir!»
Bengele dankte dem Direktor tausendmal; dann nahm er der Reihe nach Abschied von allen Geschwistern, auch von den Gendarmen, und machte sich auf den Weg nach Hause.
Er war noch keine fünf Minuten gegangen, da traf er auf der Straße einen hinkenden Fuchs und eine blinde Katze. Die beiden halfen einander durchs Leben. Der kranke Fuchs stützte sich beim Gehen auf die Katze und die blinde Katze hatte am Fuchse einen Führer.
«Guten Tag, Bengele!» grüßte der Fuchs mit feinem Anstand.
«Woher weißt du meinen Namen?»
«Ich kenne deinen Vater schon lange!»
«Wo hast du ihn gesehen?»
«Gestern unter der Haustüre.»
«Was machte er?»
«Er war hemdärmelig und zitterte vor Kälte.»
«Armer Vater! — Aber, so Gott will, sollst du von heute ab nicht mehr frieren!»
«Wieso?»
«Weil ich jetzt ein großer Herr geworden bin!»
«Du ein großer Herr!» sagte der Fuchs und verzog spöttisch das Gesicht. Die Katze lachte; aber weil sie es nicht merken lassen wollte, strich sie sich mit den Pfoten den Schnurrbart zurecht.
«Da ist gar nichts zu lachen», brauste Bengele auf. «Ich mache euch nicht gern den Mund wässerig; aber da schaut her: sind das nicht fünf Goldstücke?»
Sprach’s und schüttelte stolz sein Geld in der hohlen Hand.
Unwillkürlich stellte der Fuchs sein lahmes Bein fest auf den Boden und stand eine Weile darauf; die Katze riß ihre blinden Augen auf, daß sie funkelten wie zwei grüne Lichter. Aber gleich besann sie sich, machte die Augendeckel wieder zu und — der dumme Bengele merkte nichts.
«Und nun», fragte der Fuchs, «was willst du mit dem Geld da anfangen?»
«Zu allererst», versetzte unser Hampelchen, «lasse ich meinem guten Vater einen schönen neuen Kittel machen, ganz von Gold und Silber und mit Knöpfen von Edelsteinen, dann kaufe ich ein neues ABC-Buch für mich.»
«Für dich?!»
«Jawohl! Jetzt will ich in die Schule gehen und mich mit allem Eifer hinter die Bücher setzen.»
«Schau mich mal an», sagte der Fuchs, «mit meinem einfältigen Eifer im Lernen habe ich ein Bein verloren.»
«Und ich erst!» bestätigte die Katze, «mit meinem einfältigen Eifer im Lernen habe ich das Augenlicht vollständig eingebüßt.»
Bei diesen Worten flog eine Amsel auf die Hecke neben der Straße, pfiff ihr Liedchen und sang:
«Traue nicht, lieb’ Bengelein, Diesen Kameraden!
Lahmer Fuchs und blinde Katz’
Wollen dir nur schaden.»
Das ehrliche Vögelein hätte besser getan zu schweigen. — Gleich tat die Katze einen hohen Sprung und faßte die Sängerin mit ihren scharfen Krallen. Die Unglückliche rief noch sterbend:»’s ist wahr!» Dann aber biß ihr die Katze die Kehle ab und fraß sie auf. — Ein Häufchen Federn war alles, was von der aufrichtigen Amsel übrig blieb. — Die hinterlistige Katze schloß die Augen wieder und spielte nach wie vor die Blinde.
«Die gute Amsel!» sagte Bengele; «so grausam hättest du doch nicht mit ihr verfahren sollen!»
«Ich mußte ihr eine Lehre geben», meinte die gefühllose Mörderin; «die wird ein zweites Mal nicht mehr fremden Leuten in ihre Sachen hineinreden.»
Die drei waren indes schon ein gutes Stück weiter gegangen und nahe bei Bengeles Heimat angelangt. Da blieb der Fuchs plötzlich stehen und, als wäre ihm eben ein besonderer Gedanke gekommen, sagte er:
«Bengele, willst du nicht dein Geld vervielfältigen?»
«Was meinst du damit?»
«Willst du nicht aus deinen lumpigen fünf Goldstücken hundert, oder tausend, oder zweitausend machen?»
«Freilich! Aber wie?»
«Ganz einfach! Du gehst nicht nach Hause, sondern mit uns!»
«Wohin?»
«Aufs Wunderfeld!»
«Nein, nein! Das tue ich nicht! Ich gehe heim! Mein Vater wartet schon lange auf mich. Wie wird er gestern abend Angst gehabt haben, weil ich nicht zurückgekommen bin! — Ich war jetzt unartig genug. Lispel-Heimchen hatte recht. Den bösen Kindern geht es nicht gut auf der Welt. Ich habe es am eigenen Leib gespürt. Wie viel Unglück ist über mich gekommen! Nie vergesse ich den Schrecken bei dem Todesurteil des Direktors Feuerschlund! Brrrrrr! mir gruselt noch, wenn ich nur daran denke.»
«Also denn», sagte der Fuchs, «geh nach Hause! Aber dein Glück hast du verscherzt!»
«Hast du verscherzt», bekräftigte die Katze.
«Bedenke es wohl, Bengele, daß du das Glück geradezu fortjagst!»
«Fortjagst!» echote wieder die Katze.
«Deine fünf Goldstücke wären morgen ihrer zweitausend.»
«Zweitausend», hinkte wieder die Katze nach.
«Wie ist das möglich?» fragte Bengele und stand da mit weit geöffnetem Munde.
«Gleich will ich es dir erklären», versetzte der Fuchs. «Du gehst mit uns aufs Wunderfeld. Dort gräbst du ein kleines Loch in den Boden und legst — sagen wir einmal — ein Goldstück hinein. Dann schüttest du das Loch wieder zu, gießest einige Kannen Wasser drüber, streust Salz darauf und gehst ruhig zu Bett. Über Nacht treibt das Goldstück wie ein Samenkorn eine Pflanze; diese blüht und bringt Früchte. Am andern Morgen stehst du auf, gehst aufs Wunderfeld und — du traust deinen Augen nicht — da steht ein Bäumchen mit Goldstücken so reich beladen wie ein vollhängender Pflaumenbaum.»
«Wenn ich also auf dem Wunderfelde — Bengele war schon ganz von Sinnen — meine fünf Goldstücke einlege, wieviel habe ich dann am andern Morgen?»
«Keine leichtere Rechnung wie diese», meinte der Fuchs. «Du kannst sie ohne Rechenmaschine an den Fingern lösen. Also! Du setzest fünf Goldstücke, sie geben fünf Bäumchen, jedes trägt zum wenigsten fünfhundert Goldpflaumen. — Fünfmal fünfhundert sind — zweitausend fünfhundert! — Am andern Morgen steckst du zweitausendfünfhundert Goldstücke in die Tasche.»
«Nein! Wie schön, wie schön!» rief Bengele aus und fing vor Freude an zu tanzen. — «Wenn ich die 2500 Goldstücke habe, behalte ich für mich nur 2000, die andern 500 will ich euch zweien schenken.»
«Uns brauchst du nichts zu schenken», tat der Fuchs schier beleidigt, «Gott behüt’ uns davor!»
«… Behüt’ uns davor», echote kopfschüttelnd die Katze.
«Wir arbeiten», fuhr der Fuchs fort, «einzig für das allgemeine Wohl, wir wollen nur andere reich und glücklich machen.»
«… Glücklich machen», ergänzte die Katze und nickte mit dem Kopfe.
«Sind das brave Leute!» dachte Bengele. — Er vergaß sofort seinen Vater, den neuen Kittel, das ABC-Buch und alle guten Vorsätze.
«Kommt!» sagte er zu seinen zwei neuen Freunden, «wir kehren sofort um und gehen aufs Wunderfeld!»
Dreizehntes Stück
Im Gasthaus «Zum geleimten Vogel».
Den ganzen Tag waren die drei Goldbaumzüchter schon gegangen, als sie spät abends und todmüde ans Gasthaus «Zum geleimten Vogel» kamen.
«Hier wollen wir ein bißchen Rast machen», sagte der Fuchs, «wir essen eine Kleinigkeit und ruhen ein Paar Stunden aus. Um Mitternacht brechen wir wieder auf und sind dann morgen bei Tagesgrauen auf dem Wunderfeld.»
Sie traten in das Wirtshaus und setzten sich zusammen an einen Tisch. — Keiner hatte Appetit.
Die arme Katze litt an gräßlichen Magenschmerzen und konnte nicht mehr ertragen als dreißig kleine Bachforellen, blaugekocht mit Kartöffelchen und zerlassener Butter, dann noch vier Portionen Leberwurst. An jeder Portion schnupperte sie erst, und wenn sie ein bißchen dünn geschnitten war, so sagte die Feinschmeckerin: «Sie riecht», und verlangte eine andere.
Der Fuchs hätte gern etwas Kräftiges genossen nach dem langen Marsche; aber der Arzt hatte ihm leichte Kost verordnet. Darum begnügte er sich mit einem gewöhnlichen Hasenpfeffer. Als Gemüse nahm er dazu eine Platte gebackener Hähnchen. Nach diesem ersten Gange ließ er sich ein leichtes Ragout von Rebhühnern, Wachteln und Froschschenkeln bereiten; aß zum Schluß ein paar süße Trauben und dann meinte er:
«Ich höre gern auf; es ist die reinste Marter, wenn man sich ohne Appetit zum Essen zwingen muß. Nun bin ich froh, daß diese Qual vorüber ist.»
Am wenigsten aß Bengele. Er nahm ein paar Nußkerne und ein bißchen Brot; alles andere ließ er stehen. Das arme Hampelchen war mit seinen Gedanken immer beim Wunderfeld und hatte nur noch Hunger nach Gold.
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